Das zwölfte und letzte Gedicht von Mustafa Kör

Belgien

 

auf deine zerrissenen manchmal mit

grinsenden steinen gepflasterten wege

begab ich mich, einem blutkreislauf gleich

wollte schätze aus deinem lehmboden heben

doch wusste ich nicht woher also zog es mich ans meer

wo ich die segel hisste einem einsamen zenit entgegenging

der ruhmreiche stab der vorfahren, der einem besungenen

baum entstammte, wies mir den weg wenn ich schwankte

während ich fieberhaft nach dir suchte, ergriff er das wort

vorweltlich war seine sprache

ein zittern das aus dem bauch der erde emporstieg

zog durch uns hindurch bis wir beide einsahen dass

es einerlei ist ob wir die sprachen des anderen verstanden

sobald wir das begriffen, kam der erlösende abschied

von denen die nicht nur mit den augen lieb gehabt

 

 

Mustafa Kör
Duits van Isabel Hessel

Das elfte Gedicht von Mustafa Kör

Bibliophil

 

Versprechen sind des, nach denen du greifst

prasselnd wie gut gelagerte Bienenstöcke

Ein Blick genügte um mehr zu verlangen

vom Leben

 

Du schlenderst an Rücken entlang, pflückst hier und

da Früchte von vollreifen Regalen

Immer wenn du eins in Beschlag nimmst, leuchtet‘s

in Körper und Geist

 

Gebannt von mehr Licht hetzt du seither

von und zu deiner Gewinnregion. Die erhoffte Beute

ist Blattgold und Einsicht

 

Unter diesem Gebinde liegen Weltwunder

wie Süßigkeiten zum Greifen nah. Das war dir

von Anfang an klar. Vorbei an Mutters Rockzipfel

schautest du auf, dein Urknall erscholl

 

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das zehnte Gedicht von Mustafa Kör

Einsam

 

ein eisernes meer lag zwischen uns

von der gegenüberliegenden seite her spülte ich

an und fand dich an der kargen küste

 

wellen waschen dich, sie bahren dich auf

geben dich frei in deiner großen einsamkeit

 

einsamkeit ist eigen am schöpfersein

beuge ich daher den kopf hole ich daher

gebete für deinen übertritt hervor

 

wenn man dich vergisst, frage ich mich

solch ein tod, wird er auch uns ereilen

oder erbarmen

 

dein letzter atemzug

schlug wellen die mich zu dir brachten

 

eben berührte ich deine küste bevor ich

jn den sturm trat der nichts mehr brachte

als verspätete verse in der stille die du hinterlassen

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das neunte Gedicht von Mustafa Kör

Lebewohl

 

Dies ist kein Abschied

Es ist für die, die

Mit dem Körper lieb haben

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das achte Gedicht von Mustafa Kör

Große Kinder

 

Du erwachst und erblickst eine zerrissene Welt

Wächst augenblicklich zu einem Erwachsenen heran

Der seine Tränen vor Eltern unterdrücken muss

 

Du willst die Erde wieder in den Schlaf wiegen

Sagen dass alles gut werden wird

Wie es die Poster an deinen Wänden versprachen

 

Kind sein hieß warten und unterzugehen

Doch jetzt hast du die erste Wahl

Such dir nur eine Zukunft aus

 

Aus der Lostrommel die ich dir brachte

Auf dass du eben noch Kind bleiben kannst

Du Erfinder des herzlichen Lachens

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das siebte Gedicht von Mustafa Kör

dubistschönsoschön oh du bist so schön du bist die schönste
in deinen augen kann man sich verlieren so schöne augen hab
ich nochnie sie funkeln so herrlich deine lippen sind wunder
samgeformte herrlich rosenrote glänzende lippen wirklicheinzig
artig und so küssbar deine hände deine finger oh gott wie mit
malerbleistiftengemalt rank und schlank wie reben im sonnen
licht die sich ehrrfürchtig verneigendein lachen deinentwaff
nend herzliches lachen das sorgen vertreibt einlädt neben dich
zu treten und generös zu sein wiedu du lieber liebstersanftester
soschöner mensch den ich schon immer lieb hatte ich liebedich
dich

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das sechste Gedicht von Mustafa Kör

Herz auf der Zunge

 

Ich bin ein fremdes Kind das

von überallher angespült

das ABC des Schamanen spricht

 

Grenzen und Fahnen sind mir fremd

ich kenne jeden Winkel des Morgens und des Abends

wohin ich komme öffnen sich Ohren und Augen

 

Ich plaudere Sevillanisch deklamiere Spoken Words

und singe Lieder die man begreifen will

sobald man sie einmal richtig gehört

 

Doch mein Akzent mi! là. si. da. non, bro

versetzte das ان شاء الله nur so viele Baken

wie er palavernden Münder zum Schweigen bringt

 

Ach ich bin nur ein fremdes Kind

mit einer fremden Sprache das Gebärden braucht

oder Rauchzeichen um gehört zu werden

 

Jede Sprache sei ein Mensch hat man mich gelehrt

und je mehr Sprachen ich spräche

desto mehr Mensch würde ich sein

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das fünfte Gedicht von Mustafa Kör

Schwarz bis zuletzt

 

Zum Baumsein braucht es heute Mut

Auch du wirst das erkennen

 

Obschon dein Los ausschlagender Kummer wurde

hegst du noch Hoffnung auf einen uralten Beginn

 

Der Schwanengesang der Schwarzen

Allein mit meinem länger werdenden schwindendem

Schatten der einst die ganze Welt in sich barg

von Legionen bis zu jungen Kraftprotzen

 

Wie wird es euch ergehen

zwischen Bergen aus Beton

wo weder Vogel noch Wolf

 

Ich bin ein alter Baum

meine Tage sind gezählt

Ein Weilchen zittre ich noch

 

Bevor ich aber gehe

verstreue ich meinen Mut

über Gottes Erde wie ein Gebet

 

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das vierte Gedicht von Mustafa Kör

Minenfrauen

 

An die tiefsten Gruben

haben sie ihre Männer

abgetreten, ihre Söhne

 

Schuften im Herzen der Düsternis

wo prähistorische Kolosse ruhen

Man darf da hinabsteigen, das ist eine Sache

unversehrt wieder hinausgelangen eine andere

 

Lockruf oder Sirenengesang

Irgendetwas hat sie im Bann

Das Gold der Erde läge dort

begraben unter Myriaden von Gestein

Dort ziehen sie ihr schwarzes Brot herauf

bis blutig sie sind, sie Bröckchen husten

 

Doch so ein Frauenherz weiß mehr

Für die, die mal geboren haben

ist nichts so schwer wie zurück zu bleiben

 

In Arbeiterkreisen gebiert man

um des Brotes willen Helden, wer soll sonst

dem Dunkel trotzen, der Gefahr

 

Zwischen geschundenen Händen und Lungen

bringen sie ihr Licht schließlich heimwärts

um es über dem Esstisch auszubreiten

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das dritte Gedicht von Mustafa Kör

Schwellenangst

 

Farewell – Lebewohl

Dies ist ein Abschied des Bedauerns

Ein Reisender hat nun mal unterwegs zu sein

Gesund und wohlbehalten

Von und zu

Geliebten

Eine wummernde Stadt

 

Lebe. Wohl.

Wohlfahrt. Wohin?

Dies ist keine Reise, doch nicht für Meinesgleichen

Spast, debil, senil

 

Hindernisse nimmt man, wenn sie sich vor einem auftun

Doch wie steht es mit Hürden? Gar Gegenwind?

 

Tag für Tag dieses Ringen auf Schienen auf Asphalt

Lautstarke Willkür, wo Herren nicht aufstehen

Lieber brav davor knien

 

Der Leidensweg des Tagesausflüglers

Die Reiseroute der Lämmer und der Blinden

 

Ich werde nichts mehr fürchten

sobald es jedem ein Ärgernis ist, wie wir verfahren

mit Hilfsbedürftigen und dem Stillstand auf Bahnhöfen, in Wartesälen

 

Mobil oder behindert

Doch wozu sich noch aufmachen, da wir ohnehin stranden?

Stranden. Steckenbleiben. Zum Stillstand kommen.

Kann man mühelos im Knöcheltiefen

Wir wollen Meer

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel