• Gedichte der nationalen Dichterin

    Lesen Sie hier alle Gedichte, die Lisette Lombé als nationale Dichterin schreibt.

„Vorsätze, Vorsätze“, Das dritte Gedicht von Lisette Lombé

 

Vorsätze, Vorsätze

 

Bröckelnde Erinnerungen.
Offene Fenster.
Frische Brise auf der Stirn.

 

Sekunde der Stille
kurz vor dem Applaus.

Punkt acht Uhr.

Ermutigungen, die dem Pflegepersonal zufliegen sollen
mit dem umgekehrten Elan von Helium.
Ein Hoffnungsballon, dem der Ansteckungshöhepunkt die Luft ablässt,
fällt auf die Seite,
neben ein Spalier
aus Schimpf und Schande.

Kinder, die auf Balkonen Rädelsführer spielen,
sich über bellende Hunde und Passanten lustig machen.

Und wir nehmen uns vor,

wir zahmen Rebellen,

dass, sobald die Maske nicht mehr sein muss,
Homeoffice nicht mehr sein muss,
Zuhausebleiben nicht mehr sein muss,
nehmen wir uns vor,
dass wir
mit unserer glänzenden Haut
prunken werden

 

Feuchte Trottoirs,
Zärtlichkeit geflaggt,
Basis neuer Engagements,
Trägheit der Bäume,
Verweigerung der Fluten widersprüchlicher Weisungen,
Ausbruch aus der Isolation.

 

Vorsätze, Vorsätze.
Wir nehmen es uns vor,

aber wissen wir eigentlich,
was eine Häutung ist?

 

Übersetzung: Christina Brunnenkamp

Das zweite Gedicht von Lisette Lombé

Dann sprechen wir dieselbe Sprache

 

FRAGEN SIE MICH, wen ich bei den nächsten Wahlen wähle, für wen ich mein Glückslos für die Zukunft meiner Kinder in die Urne fallen lasse,

und Sie werden das Wort VERTRAUEN verstehen.

 

FRAGEN SIE MICH, ob ich Ihnen vergebe für die Linke auf Kuschelkurs, für die blutsaugerische Rechte, für den unersättlichen Bauch der Mitte, bitten Sie mich aufrichtig um Vergebung,

und Sie werden das Wort MUT verstehen.

 

FRAGEN SIE MICH, wie viele Kröten, wie viel Gelaber, wie viele Spermatropfen oder dumme Versprechen ich seit meiner Jugend schon geschluckt habe,

und Sie werden das Wort DOMINANZ verstehen.

 

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Das erste gedicht von Lisette Lombé

Unter der Fußballjacke

Wie eine Harpune,

gestoßen in die verwundbarste Stelle des Fleisches

eines Tiers, das sich vor der Gefräßigkeit der Menschen in Sicherheit wähnte,

so ergossen sich auf einmal

über meine braven Tage

die Bilder dieser Kinder

um Einiges jünger als meine Jüngste.

 

Habe versucht zu ignorieren, mit bebendem Oberkiefer

und dem Unterkiefer, der in die andere Richtung bebte.

Habe versucht, Brennpunkte zu ignorieren Schutt Bahren Asche Gesichter Staub aus der Luft abgeworfene Lebensmittel Bomben Offensiven Überlebensreflexe Panik Blutströme Tote Zählungen Schwindel Geiseln Geister Zahlen dokumentieren Angriffe dokumentieren Namen Vornamen Familien Massengräber improvisierte Krankenhäuser Grenzen Chagrinleder Tanzen Fallen Boden Tränen siebter Oktober kollektiver Bankrott Soldaten Raubzug Selfies Spielzeug Lingerie Schmuck Sperrungen Leichen dokumentieren Schandtaten dokumentieren internationales Totschweigen ein Bein statt zwei ein Arm statt zwei ein Elternteil statt zwei Aneinanderreihung Aneinanderreihung winziger weißer Laken.

Habe es versucht,

irgendwo zwischen gutem und schlechtem Gewissen.

Habe versucht zu ignorieren

doch gleich Verwirrung,

doch gleich Desaster,

von der Netzhaut ins sensible Mark übergegangen.

 

Ein Kind,

ich wiederhole,

um Einiges jünger als meine Jüngste,

teilt seine Essensration mit einem Hund

Teilen des Mangels.

Ein anderes,

platt auf dem Bauch im Schlamm,

trinkt Wasser aus einer Pfütze.

Dürsten nach Gerechtigkeit.

Ein anderes sagt: »Dein Vater ist ein Märtyrer.«

Waisenkind auf Autopilot.

Kleine Krabbenscherenhände.

Offene Schließmuskeln.

Unter dem Fußballtrikot

sucht ein Schrei nach seiner Stimme.


ÜbersetzungChristina Brunnenkamp