Das zehnte Gedicht von Mustafa Kör

Lebewohl

 

Dies ist kein Abschied

Es ist für die, die

Mit dem Körper lieb haben

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das neunte Gedicht von Mustafa Kör

Wenig zu viel

 

Zu viel ist übertrieben

Zu wenig ist unerhört

 

Sollen die Tiere ruhig platzen

Vor lauter Hafer und ausreichend Reben

Das Leben entspringt vollen Bäuchen

Wer schaut schon nicht gerne

Schön prall und gesund hinterher

 

Leert Kelche leckt Busen

Schlagt das Tamburin und tanzt

Lasst uns die Nacht zum Tag machen

Sie aus dem Schoß der Göttinnen stehlen

Wollen mal sehen wer wessen Opfer ist

 

Vergesst den Teufel der da lauert

Er steht nicht bloß schamlos da und spannt

Aus seinem Blick spricht blanker Neid

Nur keine Furcht hebt hoch die Röcke

Hoch die Tassen selbst Tiger küssen lieber

Hände die nicht peitschen sondern laben

 

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das achte Gedicht von Mustafa Kör

Große Kinder

 

Du erwachst und erblickst eine zerrissene Welt

Wächst augenblicklich zu einem Erwachsenen heran

Der seine Tränen vor Eltern unterdrücken muss

 

Du willst die Erde wieder in den Schlaf wiegen

Sagen dass alles gut werden wird

Wie es die Poster an deinen Wänden versprachen

 

Kind sein hieß warten und unterzugehen

Doch jetzt hast du die erste Wahl

Such dir nur eine Zukunft aus

 

Aus der Lostrommel die ich dir brachte

Auf dass du eben noch Kind bleiben kannst

Du Erfinder des herzlichen Lachens

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das siebte Gedicht von Mustafa Kör

dubistschönsoschön oh du bist so schön du bist die schönste
in deinen augen kann man sich verlieren so schöne augen hab
ich nochnie sie funkeln so herrlich deine lippen sind wunder
samgeformte herrlich rosenrote glänzende lippen wirklicheinzig
artig und so küssbar deine hände deine finger oh gott wie mit
malerbleistiftengemalt rank und schlank wie reben im sonnen
licht die sich ehrrfürchtig verneigendein lachen deinentwaff
nend herzliches lachen das sorgen vertreibt einlädt neben dich
zu treten und generös zu sein wiedu du lieber liebstersanftester
soschöner mensch den ich schon immer lieb hatte ich liebedich
dich

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das sechste Gedicht von Mustafa Kör

Herz auf der Zunge

 

Ich bin ein fremdes Kind das

von überallher angespült

das ABC des Schamanen spricht

 

Grenzen und Fahnen sind mir fremd

ich kenne jeden Winkel des Morgens und des Abends

wohin ich komme öffnen sich Ohren und Augen

 

Ich plaudere Sevillanisch deklamiere Spoken Words

und singe Lieder die man begreifen will

sobald man sie einmal richtig gehört

 

Doch mein Akzent mi! là. si. da. non, bro

versetzte das ان شاء الله nur so viele Baken

wie er palavernden Münder zum Schweigen bringt

 

Ach ich bin nur ein fremdes Kind

mit einer fremden Sprache das Gebärden braucht

oder Rauchzeichen um gehört zu werden

 

Jede Sprache sei ein Mensch hat man mich gelehrt

und je mehr Sprachen ich spräche

desto mehr Mensch würde ich sein

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das fünfte Gedicht von Mustafa Kör

Schwarz bis zuletzt

 

Zum Baumsein braucht es heute Mut

Auch du wirst das erkennen

 

Obschon dein Los ausschlagender Kummer wurde

hegst du noch Hoffnung auf einen uralten Beginn

 

Der Schwanengesang der Schwarzen

Allein mit meinem länger werdenden schwindendem

Schatten der einst die ganze Welt in sich barg

von Legionen bis zu jungen Kraftprotzen

 

Wie wird es euch ergehen

zwischen Bergen aus Beton

wo weder Vogel noch Wolf

 

Ich bin ein alter Baum

meine Tage sind gezählt

Ein Weilchen zittre ich noch

 

Bevor ich aber gehe

verstreue ich meinen Mut

über Gottes Erde wie ein Gebet

 

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das vierte Gedicht von Mustafa Kör

Minenfrauen

 

An die tiefsten Gruben

haben sie ihre Männer

abgetreten, ihre Söhne

 

Schuften im Herzen der Düsternis

wo prähistorische Kolosse ruhen

Man darf da hinabsteigen, das ist eine Sache

unversehrt wieder hinausgelangen eine andere

 

Lockruf oder Sirenengesang

Irgendetwas hat sie im Bann

Das Gold der Erde läge dort

begraben unter Myriaden von Gestein

Dort ziehen sie ihr schwarzes Brot herauf

bis blutig sie sind, sie Bröckchen husten

 

Doch so ein Frauenherz weiß mehr

Für die, die mal geboren haben

ist nichts so schwer wie zurück zu bleiben

 

In Arbeiterkreisen gebiert man

um des Brotes willen Helden, wer soll sonst

dem Dunkel trotzen, der Gefahr

 

Zwischen geschundenen Händen und Lungen

bringen sie ihr Licht schließlich heimwärts

um es über dem Esstisch auszubreiten

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das dritte Gedicht von Mustafa Kör, übersetzt ins Englische

Cold Feet

 

Farewell

This is a sad goodbye

After all, a traveller needs to be on the road

Safe and sound

To and from

Loved ones

A buzzing city

 

Fare. Well.

Onwards. Whereto?

This is no journey, at least not for my kind

Spastic, idiot, senile

 

You take the hurdles as they come

What about your cold feet? And unwillingness?

 

The daily pilgrimage by rail or road

Rampant arbitrariness where gentlemen don’ t get up

but kneel down orderly

 

The anguish of day-trippers

The journey of the blind and lame

 

I will no longer fear anything

if everyone becomes disgruntled with how we treat

the needy and the stagnation in waiting rooms and stations

 

Agile or limping

Why depart if we’re going to get stranded anyway?

Stranded. Beached. Silting up

We can do it all in the ankle-deep

We want the sea

 

Übersetzung ins Englische: Astrid Alben

Das dritte Gedicht von Mustafa Kör

Schwellenangst

 

Farewell – Lebewohl

Dies ist ein Abschied des Bedauerns

Ein Reisender hat nun mal unterwegs zu sein

Gesund und wohlbehalten

Von und zu

Geliebten

Eine wummernde Stadt

 

Lebe. Wohl.

Wohlfahrt. Wohin?

Dies ist keine Reise, doch nicht für Meinesgleichen

Spast, debil, senil

 

Hindernisse nimmt man, wenn sie sich vor einem auftun

Doch wie steht es mit Hürden? Gar Gegenwind?

 

Tag für Tag dieses Ringen auf Schienen auf Asphalt

Lautstarke Willkür, wo Herren nicht aufstehen

Lieber brav davor knien

 

Der Leidensweg des Tagesausflüglers

Die Reiseroute der Lämmer und der Blinden

 

Ich werde nichts mehr fürchten

sobald es jedem ein Ärgernis ist, wie wir verfahren

mit Hilfsbedürftigen und dem Stillstand auf Bahnhöfen, in Wartesälen

 

Mobil oder behindert

Doch wozu sich noch aufmachen, da wir ohnehin stranden?

Stranden. Steckenbleiben. Zum Stillstand kommen.

Kann man mühelos im Knöcheltiefen

Wir wollen Meer

 

Mustafa Kör

Übersetzung: Isabel Hessel

Das zweite Gedicht von Mustafa Kör

Laubfall

 

Bei diesem vorzeitigen Abschied

gerät alles aus dem Takt

krähende Hähne, Kinderchöre, mein Herzschlag

 

Dein Fenster gab

den Blick frei über die Dächer

die Felder eines flämischen Dorfes

an klaren Tagen die Türme der Hauptstadt

 

Du wolltest leben

Hingst deine Jacke an einen fernen Ort

von dem keiner je gehört

 

Was macht es schon

dass Frieden herrscht

ob die Ernte gut ist

 

Erinnerungen an

alles trägt das Parfüm mit

einem Hauch von Blumen etwas Herbst

 

Die Straßenkatzen

das Mädchen von gegenüber

sie alle kennen deinen Namen

deine Geschichte vom Aufschrei bis zum Atemzug

du bist hier

Bruder, Freund, Nachbar, Kind von allen

 

Wie Laubfall im Mai

überzieht dein Geruch Dorf und Feld

verfrüht

 

Übersetzung: Isabel Hessel und das Übersetzerkollektiv von Passa Porta