Das fünfte Gedicht von Carl Norac (+ „Samizdat“, Leo Gillessen)
Tabula rasa
Das Jahr hat sich eingeschlichen und wir
müssen es mit unserem Atem einrichten.
Tabula rasa machen, sagtest du.
Dabei haben wir schon den Januar
wie ein leeres Versprechen über Bord geworfen,
ein bisschen Brot in den Himmel gestreut
und mit Blicken einen unsichtbaren Vogel gezeichnet.
In einer Reihe laufen wir stets ins Chaos.
Und doch betreten wir
diese Wege voller Hindernisse
mit den Resten eines Feuers, mit Unveränderlichem
und unseren Kartenhäusern,
Sandburgen, Leidenschaften,
unseren kostbaren Samisdats, unseren Vorsätzen.
Um unsere überbordenden Träume zu erfüllen
bleibt uns auf unserem Weg
an diesem Februarmorgen
das zaudernde Wort Hoffnung.
Eine Hoffnung ohne Erzittern, Strahlen oder Müssen.
Bis wohin schieben wir es
in unseren Häusern, auf Biegen und Brechen?
Wir legen es auf den Tisch,
dann auf die gerade aufgeschlagene Seite.
Mit diesem Wort als Emblem
entlarven wir zumindest
über die üblichen Visagen hinaus
zwei Lippen, darauf ein Poem.
Aus dem Niederländischen übersetzt von Christina Brunnenkamp
„À la suite de la publication du cinquième Poème National, le poète de la région germanophone Leo Gillessen a relevé un mot qui l’a inspiré pour écrire un autre poème. Carl Norac a souhaité le partager. Le mot „samizdat“ lui est cher, lui rappelle son adolescence où il militait très activement pour la libération d’écrivains russes et roumains emprisonnés, et dont le samizdat demeurait l’ultime espoir d’être entendu et aussi d’exprimer leur art“.
Samizdat
– jede Autorität misstraut denen die keine Angst haben
Wir schreiben
alles sofort nieder
was nicht wartet
da niemand verbieten kann
dass ich noch rede
und schreibe stets
alleine in der Nacht
dieser trostlosen Tage
aufgedrängt von denen
die sich ernsthaft
für wichtige Bestimmer halten
und sagen ‚das muss man unbedingt‘
aus Angst allein
vor der Drohung ‚Tod‘
sagen sie mit erhobenem Finger
‚den Tod vermeiden ja verdrängen‘
und weil sie sich erinnern
während sie noch reden
das niemand seinen Tod
jemals vermeiden kann
weil man ihn selber macht
wenn es denn dazu kommt
sagen sie weiter
den Tod der anderen
den müssen wir vermeiden
als ob man Schuld am eigenen Tod
auf andere verschieben könnte
oder den es Alten nehmen
noch für sich zu bestimmen
wie sie leben
was nun regiert ist pure Angst
die alle blühende Kultur
und alle Hilfe niederbrennt
und jetzt sofort
gilt es zu sehen
wie es zu führen ist
das eigene Leben
und wie zu begleiten das der anderen
nicht durch Drohungen
da Klarheit fehlt
und Angst den Geist entzündet
an der Glut der alten
nie gelöschten Feuer
nur freie Menschen
leben frei verbunden
daher ist jeder frei
vom Band der Drohung
sich zu lösen
das ihn an unglückliches
Überleben bindet
da ist der Haken Hoffnung
der höchstens dazu dient
die Hülle falscher Sicherheit
zu halten
schon aus der Kindheit
wissen wir wie falsch ist
was wir Sicherheiten meinten
so wie wir wissen seit Beginn
dass das Leben richtig ist
und dass in jedem Augenblick
uns stützt unglaubliches Vertrauen
in das was Leben ist
und Freiheit grenzenlos
in uns verwirklicht