Die ersten Worte von Carl Norac als Nationaler Dichter

Rede vom 29. Januar 2020 für Nationaler Dichter

 

Ich möchte mit einigen Worten auf Niederländisch einleiten; einer Sprache, die ich gerade gründlicher lerne. Ich verstehe Niederländisch zwar, spreche es aber nicht gut. Nationaler Dichter zu sein bedeutet eine intensive Reise durch Belgien. Ein Belgien, wie es ist und wie wir es uns wünschen. Auch für mich wird dies eine faszinierende Reise durch eine Sprache sein. Meine Liebe zu Flandern, die ich schon immer gespürt habe, meine Sehnsucht nach Austausch, nach Reisen im Herzen der Worte, darüber werde ich immer mehr sprechen können. Das sind meine Herausforderungen für die nächsten zwei Jahre.

 

„Nationaler Dichter, ist das kein seltsames Konzept?“, werde ich manchmal gefragt. Läuft ein solcher mit einem Blumenkranz auf dem Kopf herum? Ist er ein Vertrauter der Reichen und Mächtigen oder Mitglied einer geheimen spirituellen Gesellschaft? Ich antworte darauf immer, dass nicht dieser Titel wichtig ist, sondern das, was man mit Überzeugung und Bescheidenheit damit zu erreichen hofft. Ich bin beeindruckt von dem, was Charles Ducal, Laurence Vielle und Els Moors geschrieben und getan haben, sowie von allen Partnern, denen ich von ganzem Herzen danke, dass sie dafür gesorgt haben, dass dieses Projekt heute eine Realität in Aktion, eine Poesie in Aktion ist.

(Foto (c) Simon Bequoye)

Seit Langem schon besuche ich Schauspielhäuser, Festivals, Schulen, Gefängnisse, Bibliotheken und verschiedene Gemeinschaften, um über Poesie zu sprechen, und ebenso lange bin ich der Überzeugung, dass diese Kunst mehr denn je dazu besteht, das Gewissen der Menschen wachzurütteln und Stimmen von anderswo und von hier miteinander kommunizieren zu lassen.

 

Begegnungen gibt es heutzutage fast überall: Übersetzer(innen) und Verleger bemühen sich, das Werk großer Dichterinnen und Dichter, vor allem aber der neuen Stimmen zu verbreiten. Der erste Nationale Dichter, der Flame Charles Ducal, legte mit seinem selbstsicheren Engagement und seiner unmissverständlichen Freiheit ein solides Fundament. Nach ihm durchquerte Laurence Vielle Tag für Tag das ganze Land; in natürlicher Klarheit, leidenschaftlich, kämpfend, mit ihrer mitreißenden Sprechstimme und ihrer bezaubernden Sprache. Als nächstes präsentierte Els Moors ihre Landschaften, ihre Originalität, ihre Entschlossenheit, ihre einzigartige Sichtweise sowohl auf innere Erkundungen als auch auf greifbare Realitäten, wie die Klimakrise oder den Dialog mit dem anderen, in seiner eigenen Sprache.

 

Ich selbst habe diese unsichtbare, aber ausgesprochen greifbare Grenze, die uns trennt, nie akzeptiert.

Ich liebe Flandern zutiefst. Anfang der 1990er-Jahre wurde mir klar, dass ich „ganz Flandern“ nicht kannte, und ich besuchte jede einzelne Stadt und jede einzelne Landschaft dieser Region. Das Poëziecentrum hat mich zu zahlreichen Festivals eingeladen, danach war ich einige Jahre auf Saint Amour vertreten, und ich konnte an verschiedenen Orten meine Gedichte vortragen. Ich durfte Herman de Coninck, Leonard Nolens und Stefan Hertmans kennenlernen und eine Korrespondenz mit ihnen beginnen, gefolgt von zahlreichen Begegnungen (teilweise in meiner Heimatstadt Bergen) mit Hugo Claus, der mit Henri Michaux zu den Dichtern gehört, die mich am meisten beeinflusst haben. Claus ist zugleich auch mein Führer im Land des Wagemuts. Ich lernte auch Künstler wie Carll Cneut, Ingrid Godon und Gerda Dendooven kennen, und es war mir eine große Ehre, ihnen durch unsere gemeinsamen Bücher im französischsprachigen Teil Belgiens und in Frankreich zu mehr Bekanntheit zu verhelfen. Als „Dichter von der anderen Seite“ hatte ich das große Glück, dass meine Werke bei Verlagen wie Poëziecentrum, Querido, Lannoo, De eenhoorn von Namen wie Ernst van Altena, Bart Moeyaert, Edward van de Vendel und Michael de Cock übersetzt wurden. Ich erzähle das alles, um zu unterstreichen, wie wichtig meiner Meinung nach die Kernidee des Projekts „Nationaler Dichter“ ist, nämlich Dichterinnen und Dichter aus den drei offiziellen Landessprachen dabei zu unterstützen, einander besser kennenzulernen.

 

Die Gedichte des Nationalen Dichters sollen in der Presse erscheinen, als Chance für eine neue Perspektive. Els Moors sagte bereits, dass sich Gedichte auch aus Büchern lösen müssen. Auf diesen Austausch müssen wir gemeinsam hinarbeiten. Die unverkennbare Wiederbelebung der Poesie, die in Theatern, Buchläden und Verlagen spürbar ist, unterstützt dies zweifellos. Diese Wiederbelebung ist keine Traumvorstellung, sondern ich begegne ihr überall, wo ich hinkomme. Das dringende Bedürfnis nach Poesie empfinden viele Menschen, weit über unsere literarischen Kreise hinaus. In dieser Zeit der Ungewissheit und manchmal vagen Konzepte müssen wir dieser Bewegung Gehör schenken, die von weit her kommt. In diesen turbulenten Zeiten wird deutlich, dass die Poesie wieder gebraucht wird. Zu all jenen, die zu sehr an Mauern festhielten, hat sie immer schon von Brücken gesprochen. Sie sprach immer schon gefährliche Wahrheiten aus, manchmal sinnbildlich verschleiert, manchmal auch ganz offen.

 

Poesie ist oft kurz: eine Sammlung von Momenten, die überall hindurchgleiten können, wie in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder durch Schauspielerinnen und Schauspieler, die einem auf der Straße Worte ins Ohr flüstern. Und selbstverständlich – und das ist ganz wesentlich – erscheint sie in der Presse, um eine andere Perspektive zu schenken. Ich bin voller Bewunderung für das, was im Rahmen von Nationaler Dichter bereits erreicht wurde, und ich möchte die Arbeit meiner drei Vorgängerinnen und Vorgänger würdig fortsetzen. Es gibt derart viele Wege zu erforschen, zu erfinden, wie jener unaufhaltsame Wunsch, der mich immer wieder dazu bringt, die Poesie mit anderen Künsten zu konfrontieren, insbesondere mit Musik und Tanz, diesem sichtbaren Gedicht. In diesen konfusen Zeiten, in denen die Erinnerung an die Geschichte immer schwankender erscheint, bleibt die Poesie diese bewegende, manchmal flüchtige, aber beharrliche Materie, die versucht zu verhindern, dass die Nacht zu sehr in das Herz der Menschheit eindringt.

 

Als Laurence Vielle Nationale Dichterin war und sich auf die Suche nach dem poetischen Zentrum Belgiens begab, hatte ich ihr geraten, zum Beispiel einen Stuhl am Strand von Ostende aufzustellen und sich dort niederzulassen. Ich hatte wohl eine Vorahnung, denn ich lebe jetzt am Meer, in Ostende. Ein Kindheitstraum, der sich erfüllt, der nie versandet war. Ich bin dort ein aangespoelde; einer, der an Land gespült wurde. Einer, der nicht hier geboren wurde und bildlich gesprochen „mit der letzten Flut“ angekommen ist. Jetzt stehe ich hier in Ostende. Zum Glück eine Stadt, in der ich mit offenen Armen empfangen wurde wie nirgendwo sonst – und das ist wirklich keine klischeehafte Phrase. Wenn man zwei Regionen miteinander vergleicht wie zwei Menschen oder zwei Landschaften, muss man benennen, was sie voneinander unterscheidet, aber auch, in welchen Punkten sie einander gleichen. Das nennt man intellektuelle Ehrlichkeit.

 

Meine Freundin Laurence Vielle kommt aus Brüssel. Somit bin ich der erste Wallone, der diesen Ehrentitel erhält. Übrigens bin ich auch der erste, der sich unter anderem mit Poesie für Kinder einen Namen gemacht hat. In den vielen Ländern, die einen Nationalen Dichter ehren, ist dies vielleicht einmalig. Wallonien kenne ich in- und auswendig: Ich bin in Bergen geboren, habe in Lüttich gelebt sowie in der Zentralregion und fast überall gearbeitet. Ich liebe auch meinen Hennegau, dieses Hügelland an der Grenze zu Flandern. Ich habe nie versucht, Wallonien als eine Einheit zu betrachten. Als ich in Lüttich lebte, war jemand aus Mouscron einem Lütticher so unbekannt wie ein Inuit. Was Flandern betrifft, bin ich mir noch nicht so sicher, aber ich erinnere mich an einen Morgen, als ich mit meinem Auto von Antwerpen nach Bergen fuhr; ein sehr fröhlicher Hugo Claus neben mir. Er, der – ich zitiere – „le bordel belge“ und die damit verbundenen Adrenalinschübe liebte, erklärte mir voller Begeisterung, wie unterschiedlich die Menschen in den Städten, in denen er gelebt hatte, waren. Er beendete seine Erläuterung mit bewundernden Worten für Antwerpen. Er liebte diese Stadt, erklärte er, weil „hier sogar ein Landstreicher wie ein seigneur aussieht“.

 

Man sagt, wir seien ein junges Land. Jahrgang 1830. Als ob wir vor dieser Zeitrechnung noch nie zuvor miteinander zu tun gehabt hätten. Nehmen wir meinen Hennegau: Der große Maler Roger de la Pasture aus Tournai nannte sich hier Rogier Van der Weyden. Diese Grenze zwischen unseren Künsten schien damals nicht zu existieren, wie es heute der Fall ist. Als wir in Bergen dem Todestag des genialen Komponisten Roland de Lassus gedachten, der später den italienischen Namen Orlando di Lasso annahm, wurde ich gebeten, ein Stück über ihn zu schreiben. In seiner Korrespondenz suchte ich nach Inspiration. Aus diesen Schriften erfuhr ich, dass er – wie so viele Gelehrte der Renaissance – Latein und die germanischen Sprachen auf einer selben Stufe durcheinander verwendete. Sprachgrenzen waren ihm fremd. Können wir nicht einfach zum Kern dieses Austausches zurückkehren?

 

Eines der ersten Projekte, das ich in diesem Zusammenhang vorstellen möchte, ist eine einmonatige Bootsfahrt durch Belgien im April 2021 auf einem Binnenschiff, im Rahmen derer alle zwei Wochen Dichterinnen und Dichter aus den verschiedenen Sprachgemeinschaften an Bord kommen – denn wie wir wissen, braucht es Zeit, um zusammenzukommen –, unter Genuss der lustvollen Trägheit der Fahrt auf Kanälen oder Flüssen (ein wichtiges Thema in der gesamten belgischen Poesie). Auch möchte ich die Begegnung zwischen der jüngsten Generation von Dichterinnen und Dichtern fördern, die für Aufruhr sorgt und unsere Codes, unsere literarischen Komfortzonen und unsere Gewohnheiten in Frage stellt. Unsere Route wird auch unsere Häuser für Poesie von Namur bis Gent, von Antwerpen bis Amay und weit darüber hinaus einander näher bringen, dank der Zusammenarbeit mit dem Caranusca-Team, diesem fantastischen literarischen Abenteuer. Wir werden unsere Flüsse befahren und an der Dender werden wir auch die Sprachgrenze überschreiten. Hier möchte ich als Beispiel das Dendertal anführen; eine Reihe von Gemeinden, die gemeinsam Projekte auf die Beine stellen, die über die vermeintliche Sprachbarriere hinausgehen. Diese Reise wird den Namen „Die belgischen Brücken“ tragen.

 

Als Dichter und Autor, der oftmals auch für Kinder schreibt, hoffe ich, viele Schulen in den drei Regionen rund um die gleichen Projekte motivieren zu können. Ich sage häufig zu Kindern und Erwachsenen, dass wir in einer Welt leben, in der wir nicht nur Humanismus und Ökologie, sondern auch Poesie brauchen. Die Kinder und Jugendlichen, denen ich begegne, lieben Poesie und erkennen darin oft mehr als nur traumhafte Metaphern, nämlich eine Möglichkeit, die Welt zu verändern. Ein Teenager namens Rimbaud schrieb einst, dass die Poesie immer „einen Vorsprung“ haben wird.

 

Die Rolle des Nationalen Dichters wird auch als die eines Botschafters für die belgische Poesie sowohl in Belgien als auch im Ausland beschrieben. Aus diesem Grund besuchte ich Sophie Naulleau und ihr fantastisches Team bei Le Printemps des Poètes; einem internationalen Beispiel für eine tiefgreifende, innovative Förderung von Poesie. Ein erstes konkretes Beispiel: Nach dem marokkanischen Dichter Abdellatif Lâabi im Jahr 2018 und der Quebecerin Hélène Dorion im Jahr 2019 wurde ich zum Paten der École de la Poésie ernannt; einer groß angelegten Aktion des Printemps de la Poésie und des Office central de la coopération à l’école. In der Normandie habe ich bereits Lehrkräfte aus ganz Frankreich getroffen, die die Aktion in ihren jeweiligen Regionen unterstützen. Es ist symbolisch, dass mein erster Auftritt als Nationaler Dichter übermorgen in der Nähe von Orléans stattfindet, unweit der nach mir benannten Schule im Loiret. Die Idee war ein Aufeinandertreffen des belgischen nationalen Dichters und – in Ermangelung eines französischen Pendants – des Preisträgers des Prix Goncourt für Poesie, Yvon Le Men. Ein weiteres Land meiner Mission wird ab Februar Marokko sein. Zum Auftakt von Foire du Livre in Brüssel, wo in diesem Jahr Marokko zu Gast ist, lese ich gemeinsam mit der Schauspielerin Maya Racha aus meinem auf Französisch und Arabisch erschienenen Buch. Denselben Vortrag halten wir auch während der Nuit de la Poésie in Casablanca. Natürlich werde ich auch in den belgischen Schulen dieses Landes über die Poesie sprechen. Als Vorgeschmack auf Kalimafiesta, das fantastische Festival, das im März in Brüssel auf Initiative von Els Moors (…) stattfindet. Unmittelbar danach schließe ich diesen arabischen Zyklus in Jordanien, wo ich zum ersten Mal eine Nomadenschule in der Wüste besuchen und mit Kindern sprechen werde, die andere Landschaftsfarben kennen.

 

Wie meine Vorgängerinnen und Vorgänger werde auch ich versuchen, Dichterinnen und Dichter im Zeichen der Vielfalt, für die der Begriff Poesie steht, zusammenzubringen. Zum Beispiel am 5. März in Maison Folie in Bergen, wo sich dreizehn Slammer für einen besonderen Abend angemeldet haben. Ich lege ihnen Texte vor, die bisher wahrscheinlich noch nie geslammt wurden: von Rutebeuf bis Michaux, von Hugo Claus und Paul Snoek, von Liliane Wouters bis Norge.

 

In Namur verbindet ein „geheimer“ Garten die beiden bedeutendsten Kulturhäuser Maison de la Poésie und Musée Rops. Im Juni organisieren diese beiden Institutionen auf gemeinsame Initiative die Bannerausstellung Rops pas à pas, sur les chemins du poète (Rops, Schritt für Schritt: Auf den Spuren des Dichters). Ein gewaltiges Geschenk für mich, dort meine Liebe für diesen freien Maler ausdrücken zu dürfen. Ich fahre auch nach Sint-Amands, um Verhaeren in seinem Museum zu besuchen. In meiner Sammlung habe ich ein unbekanntes Manuskript von ihm: seine Antwort auf die Frage eines Journalisten, wie Poesie heute, hundert Jahre später, aussehen würde. Diese Worte werden mir als Leitfaden dienen: „Der Mensch ist ein Fragment der Weltarchitektur. Er ist sich des Ganzen bewusst und versteht das Ganze, von dem er ein Teil ist (…) Man wird in der Gegenwart leben, möglichst nahe an der Zukunft; man wird mutig und nicht mehr behutsam schreiben; man wird keine Angst vor dem eigenen Rausch und vor der glühenden, sprudelnden Poesie haben, die diesem Gestalt verleiht. So viel mag ich hoffen.“

 

In diesem Jahr werde ich in Stavelot auch das Ergebnis meiner zwanzigjährigen Recherche nach unbekannten Dokumenten über Apollinaire ausstellen. Ein weiterer Traum, der in Erfüllung geht: eine Ausstellung im Musée Apollinaire. Dieser Dichter leistet mir Gesellschaft, seit Leonard Nolens, ein flämischer Dichter, dem meine Poesie zu kompliziert war, mir im Stile eines guten Arztes eine „Apollonaire-Kur“ verschrieben hat. Ich habe seine Anweisungen befolgt.

 

In Brüssel bekomme ich dank Midis de la Poésie ein weiteres Geschenk – und hierfür danke ich Mélanie Godin, der unermüdlichen treibenden Kraft dahinter. Zunächst erscheint bei Éditions des Midis de la Poésie ein Essay mit dem Titel La poésie pour adultes et enfants: le grand écart? (Poesie für Erwachsene und Kinder, ein Spagat?). Poesie für junge Menschen wird nachdrücklich anders betrachtet als die „allgemeine Literatur“. Wer beide Wege gleichzeitig beschreitet, wird umgehend als „Dichter mit zwei Gesichtern“ definiert. Dieses Buch ist ein Manifest gegen das Schubladendenken. Grundsätzlich entflieht die Poesie allem, was sie einschließt. Darüber hinaus wird mir Midis de la Poésie im kommenden Herbst und Winter einmal im Monat freie Hand gewähren – zum ersten Mal in seiner Geschichte. Das Programm ist noch geheim, aber es wird zahlreiche Begegnungen und Überraschungen enthalten.

 

Ein weiteres kleines Geheimnis: Bei einem großen Verlag ist eine äußerst originelle Anthologie für junge Leserinnen und Leser in Arbeit, im Zuge derer in übergreifenden Kooperationen die Dichterinnen und Dichter jeder Gemeinschaft durch die Phantasie einer Künstlerin oder eines Künstlers aus der anderen Region illustriert werden.

 

Es gibt schließlich so viele andere Projekte, vor allem in Flandern. Einige sind bereits gestartet, aber ich darf noch nichts darüber verraten, so gern ich das auch möchte. Stellen Sie sich dreihundert einheimische Kinder vor, die eine zeitgenössische Melodie singen und uns mit Fragen rund um Identität konfrontieren, sowie allseits bekannte prominente Personen, die zum ersten Mal ein Gedicht in drei Sprachen vorlesen werden. Stellen Sie sich außerdem eine Art Mittagsschläfchen vor, das uns aus der Hektik des Alltags entführt und uns einige erbauliche Worte schenkt. Stellen Sie sich ein riesiges Festival in Flandern vor, im Rahmen dessen jeden Tag eine Dichterin oder ein Dichter ein Gedicht schreibt, das am nächsten Tag in den Straßen und Parks aufgehängt wird. Nicht zu vergessen der deutschsprachige Raum, dieses ewige Mysterium. Der Zug, der stündlich von Ostende nach Brüssel fährt, setzt seine Fahrt anschließend nach Eupen fort. Ich beabsichtige, sehr oft bis zu diesem Endziel mitzufahren. Zuerst – das organisiere ich derzeit – zu Schulen, die meine ins Deutsche übersetzten Bücher kennen. Danach möchte ich einen Schritt weiter gehen und auch weniger bekannte Dichterinnen und Dichter treffen.

 

Zum Schluss noch einige Worte zu Veröffentlichungen, denn diese sind kein Zufall, sondern auch „Glaubensakte“, an diesem schönen Tag. Heute erscheint in der Bookleg-Kollektion bei Maëlstrom in einer gemeinsamen Publikation mit dem Poeziëcentrum in Gent der Gedichtband JOURNAL DE GESTES/GEBARENDAGBOEK in einer – wie ungewöhnlich! – ZWEISPRACHIGEN französisch-niederländischen Ausgabe, mit einer großartigen Übersetzung von Katelijne de Vuyst. Ich danke allen Beteiligten ganz herzlich für dieses Geschenk. Als Knirps habe ich Wellen gedichtet. Bereits damals habe ich Seiten damit gefüllt – das Alphabet sagte mir noch nichts. Ich beobachtete die Hand meines Vaters, des Dichters Pierre Coran, und genau das war für mich Poesie: in erster Linie eine Geste. In während eines Spaziergangs oder auf der Terrasse eines Cafés gemachten Notizen, in der Hand auf der Suche nach Bedeutung oder einem Flügel oder einem Kopfsteinpflaster erkenne ich ein tatsächliches „Tagebuch der Gesten“; greifbare Spuren wie Schritte im Sand, in der Hoffnung, dass sie etwas länger bestehen bleiben mögen … Und das in zwei Sprachen, denn – ich zitiere: „Die Poesie wird sich nie von einem Sprachproblem unterkriegen lassen.“ Diese Aussage habe ich vor Kurzen in einer Einrichtung für taube Jugendliche von einem Teenager in Gebärdensprache gehört. Als Beweis stellte er den Begriff „Poesie“ dar: in seiner Sprache ein doppeltes Streichen über den Arm, zuerst mit dem Handrücken und dann mit der Handfläche.

 

Wenden wir diese Prinzipien an und einigen wir uns auf die Schönheit der Geste!

 

Heute erscheint noch ein weiteres Buch, das mir sehr am Herzen liegt, im fantastischen Verlag La Joie de Lire. Ich habe nachgerechnet: Dies ist das dreizehnte Buch, das ich mit einem flämischen Illustrator veröffentliche. Möge diese negativ behaftete Zahl mir Glück bringen! Ein Buch mit Gedichten und Kurzgeschichten für junge Menschen, illustriert von der großartigen niederländischsprachigen Künstlerin Gerda Dendooven: Vent d’hiver, bei Lannoo unter dem Titel Wintervuur. Im Frühjahr wird ein weiteres Buch erscheinen: eine erste Ausgabe meiner Gedichte in den Vereinigten Staaten, bei Black Widow Press in Boston, in einer wunderbaren Sammlung französischsprachiger Gedichte. Und das nur, weil ein berühmter Übersetzer – Norman Shapiro – es so wollte. Hier möchte ich die Gelegenheit ergreifen, auf die Bedeutung von Übersetzerinnen und Übersetzern sowie von Übersetzungen hinzuweisen, um die sich alle Partner von Nationaler Dichter bemühen. Eine fantastische Sammlung von Werken von Paul Snoek und anderen hat im vergangenen Jahr einmal mehr gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir uns gegenseitig übersetzen, von den großen Namen bis hin zu den aufstrebenden Dichtern, insbesondere beispielsweise der fabelhaften Generation flämischer Dichterinnen. Michaux, einer der zehn größten Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, kann endlich auf Niederländisch gelesen werden. Mehrere in diesem Saal anwesende Verlage – Partner von Nationaler Dichter – kämpfen für diese Sache. Wir müssen Subventionen finden – „dringend“ möchte ich sagen –, um dieses Hin und Her zwischen den beiden Sprachgemeinschaften fortsetzen zu können, damit auch französischsprachige Dichter wie Jacqmin, Nougé, Scutenaire, Chavée, Izoard, Lambersy, Wouters, Lejeune, Sodenkamp, Norge, Namur, Cliff und andere, die alle das Gesicht der Poesie im französischsprachigen Belgien und manchmal auch in Frankreich verändert haben, übersetzt werden können. Es wäre eine Schande, wenn wir nicht zumindest das Licht dieser Leuchttürme unserer Poesie teilen könnten.

 

Zum Abschluss möchte ich mein erstes Gedicht als Nationaler Dichter vortragen. Ich wollte damit jeden und jede ansprechen und hoffe, dass die Presse meine Worte weiterträgt. Warum sollte man sich auf eine zweijährige Reise begeben, wenn man nicht an die Poesie glaubt? Mit diesem Gedicht spreche ich ein Kind am Rand einer Blattseite an. Es hat das Blatt noch nicht umgedreht, möchte aber etwas darauf schreiben, auf der Seite der endlosen Möglichkeiten. Ein an ein Kind gerichtetes Gedicht, aber nicht unbedingt ein Gedicht für Kinder: Ich liebe dieses falsche Paradoxon. Wissenschaftler meinen, dass die Kinder von heute die letzte Generation sind, die die tickende tödliche Zeitbombe stoppen kann. Politikwissenschaftler untersuchen, wie die Befürworter extremer Lösungen im Sinne eines „wir und die anderen“, die die sozialen Netzwerke im Sturm erobern, an den Schultoren bereitstehen. Sie betrachten die nächste Generation als die „ihre“. Es liegt an uns, einen anderen Ton anzuschlagen, für die Redefreiheit einzutreten – mit ausgestreckter Hand oder mit der Faust – und unser dringendes Bedürfnis nach Poesie sowie auch nach Humanismus und Ökologie weiterzugeben. Wir müssen von einer Generation träumen, die nicht nur aus Protest wählt und manchmal in Ermangelung einer besseren Alternative die Namen derjenigen ankreuzt, die am lautesten schreien. In dreißig Jahren habe ich derart viele Bildungseinrichtungen, von Kindergärten bis hin zu Gymnasien, besucht, dass ich behaupten kann: Ein gewisser Idealismus ist immer noch möglich, wenn wir alle Kraft aufbieten und uns nicht allzu sehr um Konventionen und Tabus kümmern. Bevor ich den Ehrenstab an meine Nachfolgerin oder meinen Nachfolger übergeben darf, habe ich zwei Jahre lang Zeit, das Land zu durchqueren und diese Botschaft zu vermitteln. Wie der große Emile Verhaeren in dem Text sagte, der mich immer begleitet: „Tels sont mes espoirs.“ (So viel mag ich hoffen).

 

Übersetzung: Susan Mahmody